Das Spinnrad

Am 10. Dezember 2021 habe ich im Radio einen Ausschnitt aus Abdulrazak Gurnahs Roman „Ferne Gestade“ gehört. Abdulrazak Gurnah, ein tansanischer Schriftsteller, Angehöriger einer muslimisch-arabischen Minderheit, ist 1968, mit 20, einige Jahre nach dem Ende der englischen Kolonialherrschaft, nach England geflüchtet.

Er beschreibt im Roman seine Ankunft am Londoner Flughafen Gatwick, wo er, eingereist ohne Visum, das Wort „Asyl“ ausspricht.

Freunde hatten ihm empfohlen, bei der Einwanderungsbehörde so zu tun, als ob er kein Englisch spreche. Der „Wink“ hatte ihm gefallen. Er hatte „etwas Listiges“ an sich, er war, (Zitat) „von der Art einfallsreicher Verschlagenheit, die Machtlosen eigen ist.“

Eine Radiogeschichte macht keinen Stopp, wenn ich etwas bedenkenswert finde. „Verschlagenheit, die Machtlosen eigen ist.“ Das hatte etwas mit mir zu tun. Auch die Wörter „listig“ und „einfallsreich“ ließen mich aufhorchen.

1968 war ich Schüler der Abschlussklasse der Hauptschule. Ich war 13 Jahre alt, wir waren eine Bubenklasse. Seit dem 1. Jänner schrieb ich Tagebuch. Das Tagebuchschreiben war geheim und hatte keinen Zusammenhang mit der Schule.

Fachlehrer Heiml hatten wir in den Fächern „Erdkunde“ und „Geschichte“. Er hatte größte Mühe, einen halbwegs geordneten Unterricht zustande zu bringen. Herr Heiml war ein interessanter Lehrer, er erzählte von seinen Fahrradreisen quer durch Europa und unterrichtete gerade vom Verlauf und den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Trotzdem wurde er gnadenlos sabotiert. Seine Eintragungen und Betragensnoten in den Zeugnissen waren ein hilfloser Schrei. Ich spielte bei dieser Lehrerjagd mit. Nicht an vorderster Front, aber doch.

So überraschte es mich, dass mir Fachlehrer Heiml in einer Pause ein Kuvert mit dem Auftrag übergab, es in meinem Dorf einem Nachbarn zu bringen. – Hatte ich so viel Vertrauen verdient? – Eine kleine Gefälligkeit, nicht mehr. Überforderte mich sein Zutrauen?

Ich brachte das Kuvert erst am Abend zum Nachbarn. Es enthielt die beträchtliche Summe von 100 Schilling, die Herr Heiml der Nachbarfamilie schuldete. Die Bauernfamilie erzählte mir bereitwillig, dass die 100 Schilling der Preis für ein Spinnrad waren. Der Lehrer wäre von dem „Ding“ begeistert gewesen. Für die Familie Stadlmayr war es nur eines der Geräte, die nutzlos geworden waren.

Antiquitätensammler hatten in den 1960iger Jahren auf den Bauernhöfen leichtes Spiel, als innerhalb weniger Jahre jahrhundertealte Traditionen verschwanden.

Auftrag erfüllt. Bravo! 100 Schilling! – Ich fuhr die Abkürzung durch die Hintergärten nach Hause. Kann Gerümpel so wertvoll sein?

Ich wusste, auch wir hatten ein Spinnrad. Aber ich wurde enttäuscht. Meine Mutter sagte mir, unser Spinnrad sei beim Neubau des Dachstuhls kaputt gegangen, sie habe es „verheizt“. Doch, machte sie mir Hoffnung, in ihrem Elternhaus, bei Tante Hilda und Onkel Ferdl, dort gäbe es noch ein Spinnrad. Bestimmt hätte ihre Schwester nichts dagegen, wenn ich es mir holte.

Auch wenn sich meine Mutter sicher war, das Spinnrad verheizt zu haben, schaute ich auf dem Dachboden und in der Rumpelkammer nach. Viele alte Dinge lagen herum, der Kinderwagen, Spielzeug aus Holz, die Gehschule. In der Rumpelkammer lehnte der Militärkarabiner nach wie vor im Kasten, daneben MG-Patronen-Ketten, ein Militär-Tornister. Den Karabiner borgte sich ein Jäger aus dem Dorf manchmal für die Rehjagd aus, weil er sich kein Jagdgewehr leistete. Jagen mit einem Militärkarabiner war verboten. Aber dieser Nachbar war Jagdleiter und mein Vater ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken.

Ein Tag verstrich, noch ein Tag. Die Schule. Die anderen Kinder. Es war Winter, Schnee fiel, Skifahren, Fernsehen. Der Gedanke, ein Spinnrad zu besitzen, ließ mich aber nicht los.

Ich fuhr mit dem Fahrrad zu meiner Tante, um sie wegen des Spinnrads zu fragen. Ihr Bauernhof war nur ein paar Häuser entfernt, doch schade, nicht nur meine Tante war da, auch ihr Mann, der Ferdl, der unwirsche, feindselige „Scherben-Ferdl“, so nannte man meinen Onkel, der die Welt, inklusive Nachbarn und Schwagerfamilie für all sein Unglück verantwortlich machte. Wenn er da war, war eine schroffe Abfuhr sehr wahrscheinlich. Ich hockte mich nur vor den Fernseher.

Ein paar Tage später machte ich einen weiteren Versuch, doch wieder war der Onkel da. Er beobachtete mich misstrauisch und verschwand im Haus.

Beim dritten Versuch, als auch Opa da war, und deshalb sein Schwiegersohn nicht, klappte es. Opa war zum Besenbinden gekommen. Er beherrschte die alte Technik, aus Reisig gut haltbare Kehrbesen herzustellen. Tante Hilda hatte nichts dagegen, dass ich am Dachboden nach dem Spinnrad suchte.

Die Tür in den Dachboden war eine Eisentür. Ich entriegelte sie vorsichtig. Schnell gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht. Und ich hatte Glück: Wie für mich vorbereitet lag das Spinnrad in einem Winkel der Dachschräge. Staubig, aber gut erhalten, nur eine Speiche fehlte.

Was willst du mit dem Spinnrad? fragte mich meine Tante.

Ich möchte es haben, sagte ich.

Ich erwähnte nicht die 100 Schilling, die Fachlehrer Heiml beim Nachbarn für ein Spinnrad gezahlt hatte.

Die Tante schenkte es mir.

Ich triumphierte. Ein Spinnrad! Wunderbar! – Daheim reinigte ich es mit einer Reisbürste und mit Wasser.

Filigran war das Spinnrad. Rätselhaft. Ich wusste nicht genau, was und wozu ein Spinnrad gut war.

Sollte ich es verkaufen? Nein. Und wem hätte ich es auch verkaufen können? Seit über einem Jahr hatte ich jetzt schon ein eigenes Zimmer. Mein Zimmer war der einzige Ort, wo ich es aufstellen konnte. Auch wenn es nicht zum Teppichboden und den orangen Tapeten, auf die ich so stolz war, passte.

Als mich das Spinnrad nicht mehr interessierte, stellte ich es – ich bin mir ziemlich sicher, dass ich selbst das war – in die Wohnzimmer-Stube neben den Fernseher. Ich stellte es so auf, dass es beim Fernsehen nicht störte.

War das jetzt ein guter Platz? Eine Zeitlang hat auch meine Schwester das Spinnrad in ihrem Zimmer gehabt. Aber die Wahrheit war, dass WIR alle in unserem großen Haus dem Spinnrad keinen guten Platz geben konnten.

Das Spinnrad geriet in Vergessenheit.